Ein fundamentaler Defekt?

Zerstörerische Formen der Liebe haben sich in allen Epochen und Kulturen gezeigt. Daher muß in Betracht gezogen werden, daß der Mensch womöglich von Anbeginn an mit einem sozialen Defekt behaftet ist, der sich sonst nirgendwo in der Natur zeigt und der den Menschen als Spezies zum Untergang verurteilt. Die andere Möglichkeit ist die, daß eine destruktive Art der Liebe in der frühesten Phase menschlichen Soziallebens ihre Ausformung fand: das heißt, die menschliche Fähigkeit zu Lieben erlitt in den Tagen der ersten menschlichen Vorfahren eine Schädigung, eine innere Verletzung, die bis heute in uns nachwirkt.

Die Annahme, daß homo sapiens als einzige Spezies zu sozialem Leben unfähig sei, widerspricht jeder Logik und biologischen Einsicht. Höher-entwickelte Lebewesen haben nicht durch arteninterne Zerstörungskriege ihre Existenz gesichert, sondern durch stärkere Fürsorgeinstinkte und größere Organisiertheit. In der Beobachtung, daß wild lebende Herdentiere ihre Jungen und Schwachen auf Kosten der starken Tiere schützen, hat sich ja auch die Simpeltheorie vom Erfolg der Stärksten überlebt. Da wir dem Menschen eine genetisch unabhängige geistige Dimension zubilligen, bleibt die Frage zu erörtern, ob und wie in den Tagen der Erschaffung des Menschen das Liebesideal korrumpiert wurde.

Ein Phänomen von solcher historischen Distanz entzieht sich der empirischen wissenschaftlichen Forschung. Nichtsdestoweniger verfügt die Menschheit über einen reichen Schatz an kulturellen Informationen, die sich mit unserem Ursprung beschäftigen. Warum sollten wir diese weltweit auffindbaren Mythen bei unseren Überlegungen ignorieren? Vielleicht können wir aus dem Studium religiöser Überlieferungen aufschlußreiche Informationen gewinnen.

Es findet sich in buchstäblich allen Religionen und Kulturen ein Mythos, der sich mit dem Ursprung des Bösen befaßt. Diese Überlieferungen untermauern die These, daß die Menschheit in ihrem Anbeginn von einem Zustand der ursprünglichen Reinheit in eine Korruptheit fiel, für deren Entstehen der Mißbrauch der Sexualität verantwortlich gemacht wird.

Eine Vielzahl afrikanischer Schöpfungsmythen berichten von einem guten Zeitalter, in dem die Götter den Menschen nahe waren, bis es durch das falsche Verhalten einer Frau zerstört wurde.10 Hindu-Schriften benennen eine goldene Ära, die zu Ende ging, als die Menschen in Gier und Selbstsucht verfielen.11 Eine buddhistische Erzählung spricht von einer Zeit, in der alle Wesen im Bereich reinen Geistes lebten, bis einer von ihnen eine verbotene Frucht genoß, sich der sexuellen Promiskuität verschrieb, nach physischen Dingen strebte und ein böses Gemüt entwickelte.12

Nach der griechischen Mythologie war Pandora eine Frau, die einen der olympischen Götter heiraten sollte. Die Götter übergaben ihr eine Büchse, die sie bis nach der Hochzeitsnacht nicht öffnen sollte. Sie konnte jedoch ihre Neugier nicht bezwingen und öffnete die Büchse vorzeitig, worauf alle Krankheiten daraus herausschwärmten und die Menschen befielen.

Der Psychoanalytiker C.G. Jung hielt diese Geschichten nicht für bloßen Aberglauben, sondern für die Ausformung von Wahrheiten, die unsere All-tagserkenntnisse übersteigen. Jung glaubte, diese Mythen seien symbolhafte Ausdrücke der kollektiven Menschheitserinnerung, eine Widerspiegelung von allen Kulturen und Rassen grundlegenden Wahrheiten.

Unter all den Geschichten, die sich mit den Umständen des Verlustes ursprünglicher Unschuld befassen, gibt die im Buch Genesis die detaillierteste Beschreibung der Abläufe. Juden, Christen und Moslems haben verschiedene Versionen dieses Berichts in ihren heiligen Schriften verarbeitet.

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