O tempora, O mores

Als Reverend Moon und die Vereinigungskirche erstmals in deutschen Medien erwähnt wurden, Anfang der siebziger Jahre, klomm die allgemeine Religionsmüdigkeit und Autoritätsablehnung der ´68 initierten sexuellen und studentischen Rebellion noch ihrem Gipfel entgegen. Eine radikal religiöse, keusche, antimarxistische Gemeinschaft, theologisch für evangelikale und für liberale Christen - aus gegensätzlichen Gründen - gleichermaßen unannehmbar, mit einer Heilsfigur aus dem durch kein Hermann Hesse-Buch und durch kein neuartiges Rauschmittel bekannten Korea? So was hätte mit Fug und Recht überhaupt nicht existieren dürfen. Und das hatte in Deutschland Fuß gefaßt? Anhänger gefunden? Unfaßbar. Eigentlich eine echte Unmöglichkeit.

Die Sympathien waren gedämpft; sie entschwanden zur Gänze in ein schwarzes Loch, als Sektenexperten über ein ganzes Ensemble von "Jugendreligionen" zu "informieren" begannen, Reverend Moon sich für Richard Nixon aussprach und die hiesige Vereinigungskirche durch kontroverses Vorgehen auffiel. Das Black Hole hat sie noch nicht wieder freigegeben, die Sympathien für neureligiöse Minderheiten. Zu viele "Sektenstories" aus zu vielen Ecken - natürlich alle in einem Medienabwasch als destruktiv einfärbbar - sind passiert. Differenzierung nicht angesagt. Dabei gäbe es über die Gestaltung unserer globalen Zukunft viel zu überdenken, auch den Frieden der Religionen und die (erstmals von Hans Küng unter diesem Namen) geforderte Entwicklung zum Weltethos, auch die vielen neuen Ausprägungen des Religiösen, auch Reverend Moon betreffend. Daß wir in unserer Phase des Umbruchs neue Orientierung brauchen, haben wir gemerkt, merken müssen. Leben wir am Ende der Geschichte oder nur am Ende der Utopien? Wir ziehen um ins globale Dorf, aber werden wir als Weltbürger oder als narzistische Cybertänzer dort ankommen? Geht die Welt in Langeweile unter, in Schönheit, im Dreck, im Wasser oder überhaupt nicht?

In manchem Szenario des Weltenendes geht allenfalls Schauspielers Ruhm unter, aber welche Jahrhundertsorgen können wir als zeitgeistiges Modegejammer abtun, welche müssen wir psychologisch therapieren, welche zwingen uns zu Tat und Veränderung? In den letzten Jahren hat die publizierte Meinung sich beispielsweise viel um die Frage gemüht, ob der Verfall von Anstand, Moral und Familie eine Bedrohung darstellt oder nicht. Den Verfall der Sitten zu beklagen, wurde nachgerade als Zeitgeistmoderittertum des ausgehenden 20. Jahrhunderts bezeichnet – Angst vor dem Kommenden, die immer klagt und nie recht hat. Es herrschen harte Zeiten im Land, aber hat das nicht schon einmal jemand gesagt? Oder zweimal, dreimal, vielmals? Haben Sie nicht erst kürzlich, diese oder letzte Woche, in einer Kneipe oder im Intercity, sich von der Redseligkeit eines Mitplanetariers überzeugen können, von diesem "Daherreden von langweiligem und alltäglichem Zeug"? Ein kluger Autor hat das geschrieben, leidvoll erkennend, daß so ein Schwätzer im Gespräch (eigentlich im Monolog) doch immer schnell darauf zu sprechen kommt, "wieviel schlechter die Menschheit von heute ist als die der guten alten Zeit…"

Der diese zeitgemäße Beobachtung gemacht hat, hat sich vom Schwätzer auch anhören müssen "daß es schwer sei, Mensch zu sein". Gibt es von diesen schwierigen Schwätzern nun 1995 mehr als vor 10 Jahren, mehr als in den Tagen Napoleons –, mehr als vor den gut 2400 Lenzen, als der Grieche Theophrast seine mißver gnügten Aufzeichnungen machte? Zwei Konstanten historischen Menschseins zeichnen sich hier, in aller Vorsicht wissenschaftlich nicht gehärteter These für Einspruch offen, ab. 1. In jeder Zeit und jeder Krise, immer finden sich schneller Leute, die sie bejammern, als solche, die etwas ändern wollen. 2. Es ist angebracht, statt eines Werteverfalls aus jüngster Vergangenheit ein grundlegendes Wertedefizit zu konstatieren, ein Defizit, das uns seit Jahrtausenden peinigt und sich in allen Belangen menschlicher Beziehungen - zur Umwelt und Natur, zum Mitmenschen, zum eigenen Ich - niederschlägt. Etre un homme, ne pas facile, bis dato noch zu keiner Zeit. Das macht auch irgendwie den Reiz der Sache aus, bis zu einem gewissen Grad der Schwierigkeit.

Aber das heißt nun nicht, daß es alles in Ordnung geht mit unseren inneren Defiziten. Nur der, dem es schon warm ums Herz ist, der seinen Kräften vertrauen gelernt hat, zieht aus auf Abenteuer, etwa, um dem Teufel seine drei goldenen Haare zu rauben oder das Übel zu besiegen. Viele leiden mehr, leiden an Unerträglichem. Das Leben, das Herz Gottes ertragen es nicht, daß diese Leiden fortgeschrieben werden.

Es besagen die obigen Konstanten der menschlichen Geschichte darüberhinaus auch nicht, daß wir alles Bedenkenspflichtige ignorieren sollten. Große Veränderungen sind den Menschen zwischen Nordsee und Alpen öfters ins Haus gestanden, und es gab eine Zeit, da war ihr Glauben und ihr Vertrauen ihr größter Schatz. Befassen wir uns einmal mit herausragenden Menschen unserer deutschsprachigen Geschichte, so zeigt sich, daß deutsch und gläubig lange Zeit fast synonym aufgefaßt werden konnten.

Einige Menschen werden aktiv, um bedrohliche Fehlentwicklungen aufzuhalten, oder sie wollen zumindestens eines dieser Übel beseitigen: Kindesmißhandlung, Unterdrückung der Frau, Jugendkriminalität, Drogensucht, Alkoholismus, Ausbeutung, Armut, Hunger, das Nord-Süd Gefälle, Umweltzerstörung, Klimakatastrophe, Aufrüstung, Machtpolitik, Kriegstreiberei, Gewalt, organisiertes Verbrechen, Entwürdigung der Liebe, Verfall von Familie und Moral. Während wir alle unter diesen Übeln leiden, sie zugleich beklagen und doch versucht sind, sie zu unserem eigenen Vorteil auszunutzen, gibt es einen kleinen Teil der Menschheit, von dem die einen mit großem Erfolg das Wertdefizit zu ihrem Kapital machen und die anderen mit noch größerem Einsatz eine bessere Welt schaffen wollen. Dies sind die Visionäre, die Utopisten, die Unzeitgemäßen und Unausweichlichen.

Angehörige dieser beiden Gruppen haben die Geschichte beeinflußt, als Despoten oder Wohltäter, als Weltverbrecher oder Heilige. Vielen Zeitgenossen solcher Menschen ist es noch nicht einmal leicht gefallen, sie als das eine oder das andere einzuordnen: Sokrates und Paulus wurden hingerichtet – als Jugendverführer und Volksverhetzer; Nero ward als Gott verehrt und Mao galt in Kreisen der kritischen deutschen Jugend als Inbegriff revolutionärer Weisheit. Erst die historische Distanz ermöglichte eine Auseinandersetzung und bessere Einordnung. Dem Augenschein nach sind es übrigens vor allem kriegerisch-politische Führer mit ideologischem Anspruch, deren Bild sich in der Historie von Engeln zu Teufeln wandelt, während Minderheitenvertreter, Propheten, religiöse Innovatoren und Prediger der Gewaltlosigkeit von den Nachgeborenen freundlicher beurteilt werden als von ihren jeweiligen Zeitgenossen. In Umformulierung einer biblischen Weisheit läßt sich annehmen: der Prophet gilt nichts in der eigenen Zeit. Liegt das daran, daß diese Unbeugsamen ihren Mitmenschen schnell zum Ärgernis und unbequemen Mahnern werden?

Unleugbar muß Reverend Sun Myung Moon unter die kleine Gruppe der Veränderer gerechnet werden, zu denen, die sich nicht mit "der Welt, wie sie nun einmal ist" abfinden. Sein weltweites Engagement läßt auch in den neunziger Jahren um keine Spur nach. Vor Politikern, Wissenschaftlern und Würdenträgern bekräftigte er noch kürzlich, die Welt beeinflußt zu haben und "ganz oben" zu stehen. Die Tatsache, daß CIA, KGB und Stasi Dossiers über diesen Mann und seine Kirche anlegten, daß die eine Regierung ihn empfing, während eine andere ihm die Einreise verweigerte, daß Bücher und Filme über ihn gemacht wurden, belegt dies.

Der Name Moon ist in aller Welt bekannt, wenn auch nicht geliebt: die meisten Menschen assoziieren damit "Sekte" und "Verführer der Jugend" - wissen aber nicht, was Rev. Moon denkt oder tut. Dies trifft nicht nur auf den Mann auf der Straße zu, sondern auch auf Vertreter der Obrigkeit. Der US-Journalist Carlton Sherwood beschrieb in einem Buch über "Verfolgung und Verfahren" Rev. Moons die Anstrengungen der US-Regierung, den unbequemen Koreaner abzuurteilen, welche 1984 mit einer Klage wegen vermeintlicher Steuerhinterziehung erfolgreich waren. Über die Verhandlung gegen Moon schreibt Sherwood, selbst der Richter habe Assoziationen zu diversen Schreckensfiguren von sich gegeben: "Das Gericht verzichtete auf Vergleiche mit dem Hunnenkönig Attila und Jack the Ripper, aber nicht auf solche mit einem Kindsmörder aus Atlanta, Adolph Hitler, der Cosa Nostra, Fagin und dem abgehalfterten Richard Nixon." Die Berufung Moons gegen das Urteil wurde trotz Unterstützung durch maßgebliche Bürgerrechtler und um die Religionsfreiheit besorgte Kirchen (darunter die größte protestantische Kirche der USA) abgewiesen. Ist Reverend Moon eine Zeiterscheinung, ein skrupelloser Geschäftemacher ersten Ranges oder, wie er beansprucht, erfolgreicher Religionsstifter der Gegenwart und "mit Gott in wahrer Liebe, wahrem Leben und wahrer Abstammung verbunden"?